Gottesdienst 25. Februar 2024 / Hanspeter Obrist
Leiden bringt uns an die Grenzen des Verstehens und führt uns in die Welt des Vertrauens.
Paulus schreibt in 2. Korinther 12,7-10: „7 Gott selbst hat dafür gesorgt, dass ich mir auf die unbeschreiblichen Offenbarungen, die ich empfangen habe, nichts einbilde. Deshalb hat er mir ein quälendes Leiden auferlegt. Ein Engel des Satans darf mich mit Fäusten schlagen, damit ich nicht überheblich werde. 8 Dreimal schon habe ich den Herrn angefleht, mich davon zu befreien. 9 Aber er hat zu mir gesagt: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst! Denn gerade wenn du schwach bist, wirkt meine Kraft ganz besonders an dir.« Darum will ich vor allem auf meine Schwachheit stolz sein. Dann nämlich erweist sich die Kraft von Christus an mir. 10 Und so trage ich für Christus alles mit Freude – die Schwachheiten, Misshandlungen und Entbehrungen, die Verfolgungen und Ängste. Denn ich weiß: Gerade wenn ich schwach bin, bin ich stark.“
In der Elberfelder Bibel heißt es: Ich will mich meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohnt.
Mit Paulus haben wir es mit einem vorbildlichen Christen zu tun, der leidet. Ob es seine Sehschwäche ist, wissen wir nicht. Es könnten auch Kopfschmerzen sein oder etwas anderes, das ihm die Energie raubt.
Auch sein Mitarbeiter Timotheus leidet. Er hat oft Bauchschmerzen. Paulus schreibt in 1.Timotheus 5,23: „Trink nicht länger nur reines Wasser. Du bist so oft krank, und da würde etwas Wein dazu deinem Magen gut tun.“ Paulus ermutigt Timotheus, Alkohol als Medizin zu verwenden.
Auf der anderen Seite werden in der Bibel Menschen geheilt. Wenn wir genau hinschauen, stellen wir fest, dass es auch nach drei Jahren Tätigkeit von Jesus in Jerusalem immer noch Blindgeborene und Lahme am Tempeltor gab (Apostelgeschichte 3,2).
In Apostelgeschichte 19,12 wird beschrieben, wie die Menschen die Schweißtücher des Paulus auf die Kranken legten und die bösen Geister von ihnen wichen. Ausgerechnet dieser Paulus leidet, bei dem die bösen Geister nur schon durch seinen Geruch die Flucht ergreifen.
Jakobus schreibt in Jakobus 5,13-16: „Leidet jemand unter euch? Er bete. Ist jemand guten Mutes? Er singe Psalmen. 14 Ist jemand krank unter euch? Er rufe die Ältesten der Gemeinde zu sich, und sie mögen über ihm beten und ihn mit Öl salben im Namen des Herrn. 15 Und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten, und wenn er Sünden begangen hat, wird ihm vergeben werden. 16 Bekennt nun einander die Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet! Viel vermag eines Gerechten Gebet in seiner Wirkung.“
Spannend ist in diesen Versen, dass es ein Beten mit- und füreinander ist und der Kranke aufgerichtet wird. In der Praxis erhält man Kraft, eine Situation auszuhalten oder es tritt ein Heilungsprozess ein. Dorothea Trudel legte ab 1854 in Männedorf im Gebet die Not der Kranken Gott hin, ohne ihm zu sagen, wie er handeln muss. Viele wurden gesund. Andere gingen innerlich gestärkt nach Hause.
Leiden wird in der Bibel nicht immer als etwas Negatives gesehen. Im Leiden vertieft sich der Glaube. Im Tal des Todesschattens geht David in Psalm 23 mit Gott auf „du“.
Leiden bringt uns an die Grenzen des Verstehens und führt uns in die Welt des Vertrauens.
Oder einfach ausgedrückt: Wenn alle Christen automatisch gesund wären, würden alle Menschen Christen werden, aber nicht, weil sie mit Jesus leben möchten, sondern weil sie gesund sein wollen.
Unser Glaube muss sich auch in der Not bewähren. Was nützt ein Glaube, der keine Schwierigkeiten aushält? Manche zerbrechen genau an dieser Frage.
Leiden ist kein Zeichen eines schwachen Glaubens. Gott sucht sich oft Menschen, an denen er zeigen kann, dass sich der Glaube an ihn auch in Schwierigkeiten bewährt.
Wir kommen dann an einen Punkt, an dem wir die Dinge nicht verstehen, aber dennoch auf Gott vertrauen.
In Apostelgeschichte 1,8 heißt es: „Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist; und ihr werdet meine Märtyrer / Zeugen sein (ἔσεσθέ μοι μάρτυρες), sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde.“
Der Heilige Geist befähigt uns, auch Leiden zu ertragen. Leiden bringt uns an einen Punkt, an dem wir zwar nicht alles verstehen, aber wir lernen Gott zu vertrauen, dass er aus allem etwas Gutes machen kann.
Jesus nimmt unsere Not nicht immer weg, aber er hilft uns. Wir sollen seine Hilfe erfahren, seine Gemeinschaft schätzen und lieben lernen.
In Psalm 68,20 heißt es: „Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch“. Jesus sagt: „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Matthäus 16,24).
Eigentlich sagt Jesus: Lehne dich nicht ständig gegen das auf, was Gott in deinem Leben zulässt, sondern vertraue darauf, dass Gott es zum Guten gebraucht.
Paulus sagt es so: „Wer Gott liebt, dem dient alles, was geschieht, zum Guten“ (Römer 8,28).
Hiob sagt inmitten seines Leidens: „Herr, ich kannte dich nur vom Hörensagen, jetzt aber habe ich dich mit eigenen Augen gesehen!“ (Hiob 42,5).
Was hat Hiob gesehen? Er erkannte, dass Gott alles erschaffen hat. Er erkannte seine eigene Begrenztheit. Auch wir können uns fragen, weshalb wir von Gott Rechenschaft verlangen für sein Handeln.
Sadu Sundar Sing, ein indischer Wanderprediger, ging immer wieder nach Tibet, um das Evangelium zu verkünden. Dort wurde er oft verfolgt und misshandelt. Jemand fragte ihn, weshalb er immer wieder dorthin gehe und ob er das Leiden liebe. Er antwortete: „Nein, nicht das Leiden, aber die Gegenwart Gottes, die ich dort erfahre.“
Ich kenne eine Frau, die seit vielen Jahren an den Folgen einer Kinderlähmung leidet. Als ich sie fragte, ob sie dem Leiden auch etwas Positives abgewinnen könne, antwortete sie: „Ich weiß nicht, wo ich heute wäre, wenn ich durch meine Krankheit nicht so nahe zu Gott gekommen wäre.“ Ihr Mann sagte: „Ohne Leiden könnten wir das Vollkommene nicht erkennen.“
Gott hat die Macht, Leiden wegzunehmen, aber manchmal stillt er nicht den Sturm, sondern das Herz und gibt uns die Kraft, den Sturm durchzustehen.
Das Ziel unseres Lebens ist nicht, das Leiden zu beseitigen, sondern einander im Leiden zu helfen, jeder mit seinen Möglichkeiten.
Das Leiden soll uns zeigen, dass wir ergänzungsbedürftig und auf Hilfe angewiesen sind. Das widerstrebt uns. Wir wollen selbständig und unabhängig sein.
Eigentlich sollten wir in unserem Leben entdecken, dass gegenseitige Hilfe etwas Erfüllendes ist. Jesus spricht davon, dass einer dem anderen dienen soll. In Markus 10,43 sagt Jesus: „Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.“ Im Himmel dient einer dem anderen.
In unserem Leben entdecken wir, dass uns ohne Gott etwas fehlt. Wir sind auf seine Ergänzung angewiesen. Er will durch unsere Hände und Worte auf dieser Erde wirken.
Das Leiden konfrontiert uns mit unseren Grenzen und soll unsere Sicht weiten.
In der Hilfsbedürftigkeit sollen wir Gottes Hilfe erfahren. Im Augenblick des Leidens können wir das oft nicht verstehen. Leid fordert unseren Glauben heraus.
Viel Leid in der Welt ist aber auch hausgemacht, weil wir uns nicht an die Anweisungen Gottes halten. Wer durch sein eigenes Verhalten leidet, soll mit Gottes Hilfe sein Verhalten ändern. Das ist manchmal ein langer Weg, aber Jesus begleitet uns darin.
Leiden kann zum Katalysator für persönliches Wachstum werden.
Unverschuldetes Leiden ist nicht ein Ausdruck des Versagens, sondern des Sieges. Leiden ist sogar ein Ausdruck der Liebe Gottes.
In Offenbarung 5,6 steht: „Und ich sah: Zwischen dem Thron und den vier Lebewesen und mitten unter den Ältesten stand ein Lamm; es sah aus wie geschlachtet“.
Und in Offenbarung 5,12 lesen wir: „Sie riefen mit lauter Stimme: Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, Macht zu empfangen, Reichtum und Weisheit, Kraft und Ehre, Lob und Herrlichkeit.“
Von Anfang an war Gott in seiner Liebe bereit, den Mangel des Menschen auszugleichen. Dazu muss der Mensch aber seine Hilfsbedürftigkeit erkennen. Er soll sich nicht mehr von Gott abwenden, sondern sich ihm zuwenden, indem er das Geschenk der göttlichen Vergebung und Liebe annimmt.
Die Antwort auf die göttliche Liebe ist, mit Gott im Gespräch zu bleiben und den Weg der Liebe zu Gott und zu den Menschen zu gehen.
Jesus sagte: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Johannes 15,13).
Nicht jeder empfindet das Gleiche als Leid. Der eine leidet unter einer Situation, die den anderen beflügelt. Und wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, sehen wir: Die meisten Menschen leiden an irgendetwas. Manche leiden an verborgenen Dingen, an zerbrochenen Beziehungen oder an schwierigen Lebenssituationen.
Die Bibel sagt uns, dass Leiden zu unserem Leben gehört und eine Folge des freien Willens ist. Seit der Mensch selbst entscheiden will, was für ihn gut und böse ist – das ist die eigentliche Aussage des Sündenfalls –, hat er mit Widerständen – Dornen und Schmerzen – zu kämpfen. Unser Leben ist ein ständiger Kampf ums Überleben und gegen den Tod. Der eigentliche Kern des Sündenfalls ist, dass der Mensch nicht darauf vertraute, dass Gott es gut mit ihm meint.
Gott sehnt sich nach der Nähe mit uns. Wir suchen sie oft erst, wenn wir an unsere Grenzen kommen.
Glauben bedeutet, darauf zu vertrauen, dass Gott es gut mit mir meint und mich im dunklen Tal an der Hand nimmt und mich hinausführt. Die wichtigste Erfahrung dabei ist die Gegenwart Gottes.
Wir sind hier eine Viva-Gemeinschaft. ‚Viva‘ bedeutet Leben. Wir teilen miteinander die Faszination des Lebens und des Glaubens und ertragen schwierige Situationen gemeinsam.
Paulus schreibt in 1.Korinther 12,26: „Leidet ein Teil des Körpers, so leiden alle anderen mit“.
Leiden ist für uns alle eine Herausforderung.
Als Christen haben wir einen großen Vorteil: Wir wissen: Mit dem Tod ist unser Leben nicht zu Ende. Wer mit Jesus lebt, hat das ewige Leben. Leiden ist ein Tunnel, nicht das Ende.
Zweitens wissen wir: Gott ist da. Wir sind im Leiden nicht verlassen und nie allein. Gott trägt uns. Jesus sagt in Johannes 10,29: „Mein Vater hat sie mir gegeben, und niemand ist stärker als er. Deshalb kann sie auch keiner der Hand meines Vaters entreißen.“
Weil Jesus alle Krankheiten ertragen hat, weiß er, wie es uns damit geht. Er versteht uns und trägt uns.
Hiobs Freunde redeten zur falschen Zeit. Nicht alles, was sie sagten, war falsch. Aber es gibt Zeiten, in denen man einfach da sein muss, ohne Ratschläge zu geben. Wir stehen oft in der Gefahr zu reden, weil wir die Not nicht aushalten. Doch wir sind herausgefordert, mit der Hilfe Gottes das Leiden auszuhalten.
Weil Jesus auferstanden ist, haben alle, die ihm ihr Leben anvertraut haben, die innere Gewissheit, dass sie bei Gott eine Zukunft haben, in der es keine Tränen mehr geben wird. Diese Hoffnung lässt uns auch im Leid nicht verzweifeln, sondern trägt uns hindurch. Vieles verstehen wir nicht, aber paradoxerweise kann unsere Beziehung zu Gott im Leiden vertieft werden. So kann Leiden zum Segen werden.